HAE – eine Krankheit mit vielen Gesichtern

Plötzlich und rezidivierend auftretende starke Schwellungen der Haut, kolikartige Abdominalschmerzen und Schluckbeschwerden – das Hereditäre Angioödem (HAE) hat viele Gesichter. Zugrunde liegen immer subkutane oder submuköse Ödeme, die örtlich begrenzt in den unterschiedlichsten Körperregionen vorkommen können. Meistens sind die Haut und der Magen-Darm-Trakt betroffen, oft der Kopf-Hals-Bereich. Aber auch die Genitalien, Harnblase, Muskulatur, Gelenke, das Gehirn und die Nieren bleiben nicht von den Ödemen verschont.1,2,3 

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Lokalisation von HAE-Attacken bei 201 Patienten (modifiziert nach Bork et al. 20062)

Wenn die Haut­oberfläche anschwillt

Typisch für das HAE sind Schwellungen im Gesicht, die auch die Augen und Lippen betreffen können, sowie an den Extremitäten. Durch die Schwellung kann die Funktion stark eingeschränkt sein, wenn zum Beispiel die Hand stark geschwollen ist oder die Augen hinter der Schwellung verschwinden. Da die Schwellungen zudem entstellend sind, zeigen sich die Betroffenen damit nur ungern in der Öffentlichkeit.1,3 

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HAE-Attacken können in unterschiedlichen Körperregionen auftreten

Besonders schmerzhaft: Ödeme im Magen-Darm-Trakt

Fast alle Patienten erleben kolikartige, starke Abdominalschmerzen – immer dann, wenn die Darmschleimhaut von einer HAE-Attacke betroffen ist und es zu einer starken Verengung des Darmlumens kommt. Ödeme im Verdauungstrakt gehen oft mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall einher und können von Aszites und einem hypovolämischen Schock begleitet werden. Das klinische Bild ähnelt bei isolierten Attacken nicht selten einem akuten Abdomen.2,4

Potenziell lebens­bedrohlich im Halsinnern

Gefährlich und potentiell lebensbedrohlich sind Schwellungen der Schleimhaut im Halsinnern. Wenn die Zunge, der Larynx, Pharynx oder die Trachea betroffen ist, kann dies zur Asphyxie führen. Ohne eine angemessene Behandlung besteht bei Kehlkopfödemen ein 25%iges Risiko für einen tödlichen Ausgang. Deswegen sollte differentialdiagnostisch immer auch an ein HAE gedacht werden. Der frühzeitigen Diagnose des HAE kommt eine besondere Bedeutung zu, damit eine adäquate Therapie erfolgen kann.1,3,5

Variables Krankheitsbild – frühe Erst­manifestation

Die Häufigkeit und die Schwere der Attacken schwanken – von Patient zu Patient, aber auch im Laufe des Lebens.

Ergebnisse aus verschiedenen Analysen6,7,8 zeigen:

 

  • Ca. ein Viertel der Patienten hat mehr als eine Attacke pro Woche,
  • Mehr als ein Drittel hat mehr als eine Attacke pro Monat,
  • Mehr als ein Drittel hat mehr als eine Attacke pro Jahr.

 

Erste HAE-Symptome treten bei den meisten Patienten im Kindes- oder Jugendalter auf. Ein früher Beginn der HAE-Symptome kann ein Prädiktor für einen schwereren Verlauf der Erkrankung sein. Bei rund einem Viertel der Patienten sind die ersten Symptome abdominale Schmerzen. Oft verschlimmern sich die Symptome während der Pubertät, insbesondere bei Frauen. Diese sind im Durchschnitt häufiger betroffen. Auslösend und verschlimmernd kann die Anwendung von östrogenhaltigen Medikationen zur Kontrazeption oder zur Substitution sein.2,9

Typische HAE-Attacke

HAE-Attacken treten rezidivierend auf. Die Schwellungen können sich beim HAE langsam entwickeln, aber auch akut auftreten und unbehandelt mehrere Tage andauern. Die Hautschwellungen sind nicht gerötet und jucken im Gegensatz zu einem allergischen Ödem nicht, das sich zudem in der Regel früher – nach zwei Tagen – zurückbildet. Vor allem die kolikartigen Abdominalattacken dauern unbehandelt zwei bis fünf Tage.

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Schematischer Ablauf einer Schwellungsattacke ohne Behandlung

Vorläufer­symptome können auftreten

Manche Attacken kündigen sich durch Vorläufersymptome, sogenannte Prodromi, an. Typisch für das HAE ist das Erythema marginatum, eine nicht juckende, meist ringförmige Hautrötung. Ebenso kann es im Vorfeld an der späteren Schwellungsstelle zu einem Kribbeln oder einem Spannungsgefühl kommen. Manche Patienten fühlen sich vor der Attacke abgeschlagen oder klagen über grippeähnliche Symptome oder Hitzewallungen. Starke Stimmungsschwankungen werden ebenfalls berichtet. Vorboten einer abdominalen HAE-Attacke sind Übelkeit, schmerzhafte Krämpfe und eine veränderte Darmtätigkeit, häufig verbunden mit Durchfällen. Anzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Attacke im Rachen können Schluckbeschwerden, eine raue Stimme, Pfeifen oder Keuchen beim Atmen, eine geschwollene Zunge, Husten, ein metallischer Geschmack im Mund und Kurzatmigkeit sein. Für HAE-Patienten bedeuten diese Symptome, dass ein ärztlicher Notfall eintreten kann, da die Atemwege blockiert werden können.10,11

Das kann HAE-Attacken auslösen

In einigen Fällen kann einer HAE-Attacke ein äußerer Reiz zugeordnet werden, der als Trigger in Frage kommt. Es kommt vor, dass Traumata – zum Beispiel durch Operationen oder Zahnbehandlungen, Infektionen, psychische oder körperliche Belastungen wie zum Beispiel wiederholte Bewegungen oder mechanischer Druck / Stoß – Attacken triggern. Die Einnahme von ACE-Hemmern und AT-Antagonisten ist bei HAE-Patienten strikt kontraindiziert, da diese Medikamente auch bei genetisch gesunden Menschen HAE-ähnliche Symptome auslösen können. Der Einsatz östrogenhaltiger Medikationen zur Kontrazeption oder Ersatztherapie sollte vermieden werden. Für die Auslöser von HAE-Attacken gilt: Verletzungen und Reizungen im Mund- und Rachenraum sind besonders gefährlich, da hier Schwellungen zu einem Verschluss der Atemwege führen können. Als weitere Auslöser sind bei Frauen die Menstruation sowie Änderungen der Östrogenspiegel zu nennen.1,2

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Mögliche Auslöser einer HAE-Attacke

Vorsicht, Verwechslungs­gefahr!

Die Hautschwellungen werden oft einer Allergie zugeschrieben oder mit anderen Formen von Urtikaria verwechselt. Es gibt jedoch Unterschiede im klinischen Verlauf: Ödeme der Haut entwickeln sich beim HAE in der Regel allmählich über mehrere Stunden im Verlauf von 12 bis 36 Stunden, während sich eine allergisch bedingte Hautschwellung deutlich rascher entwickelt und schon nach circa zwei Tagen wieder abklingt. Unbehandelt lassen die Symptome bei einer HAE-Attacke erst nach zwei bis drei Tagen, manchmal (vor allem im Abdominalbereich) erst nach bis zu sieben Tagen wieder nach.12,13

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Blinddarmentfernung bei 18,7% der Kontrollgruppe vs 37,7% der HAE-Patienten (2,6 mal häufiger) (modifiziert nach Hahn et al. 20187)

Im Gegensatz zur Allergie sind die Schwellungen beim HAE blass, unscharf begrenzt und jucken nicht. Einen weiteren Hinweis auf das Vorliegen eines HAE kann das mangelnde Ansprechen einer HAE-Schwellung auf Antihistaminika, Kortikosteroide und Adrenalin liefern, die bei einer allergischen Ursache effektiv wären.13,3

Fast alle HAE-Patienten erleiden Attacken im Magen-Darm-Bereich. Auch hier besteht die Gefahr von Fehldiagnosen, denn die krampfartigen Schmerzen werden oft mit einem akuten Abdomen, einem Magengeschwür oder Reizdarmsyndrom in Verbindung gebracht. Die Betroffenen erhalten aufgrund der Fehldiagnosen wiederholt unwirksame und unnötige Behandlungen. Gelegentlich resultieren daraus sogar nicht indizierte chirurgische Eingriffe – wenn zum Beispiel ein entzündeter Blinddarm oder Gallen- und Nierensteine als Ursache für Bauchkrämpfe vermutet werden.14 

Es gilt also, Verwechslungen zu vermeiden mit:

 

  • allergischen Hautreaktionen
  • Urtikaria (Nesselsucht)
  • Reizdarmsyndrom
  • Lebensmittelunverträglichkeiten
  • Gallen- und Nierensteinen
  • Appendizitis
  • Harnwegsinfektionen

1 Bork K et al. Allergo J Int 2019;28: 16-29.
2 Bork K et al. Am J Med 2006;119:267-274.
3 Maurer M et al. Allergy 2018;73(8):1575-1596.
4 Zuraw BL. N Eng J Med 2008;359(10):1027-1036.
5 Longhurst HJ, Bork K. Br J Hosp Med (Lond)2006;67:654-657.
6 Banerji A et al. Allergy Asthma Proc 2015;36:213-217.
7 Caballero T al. Allergy Asthma Proc 2014;35(1):47-53.
8 Steiner U et al. Orphanet J Rare Dis 2016;11:43.
9 Farkas H et al. Allergy 2017;72:300–313.
10 Agostoni A et al. J Allergy Clin Immunol 2004;114:S51-131.
11 Magerl M et al. Clin Exp Dermatol 2014;39:298-303.
12 Bork K etal. Am J Gastroenterol 2006;101:619-627.
13 Cicardi M et al. Allergy 2014;69:602-616.
14 Hahn J et al. JDDG 2018;16(12):1443-1449.

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Laut internationaler Leitlinien der World Allergy Organization und der European Academy of Allergy and Clinical Immunology (WAO/EAACI) besteht bei Patienten mit wiederholten Angioödem-Attacken generell der Verdacht auf ein Hereditäres Angioödem vom Typ I oder II. Zur Bestätigung der Diagnose bei einem Verdacht sind Laboruntersuchungen notwendig.

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