Beim HAE gibt es Fehler im System

In der Pathophysiologie des Hereditären Angioödems (HAE) steht die unzureichende Kontrolle des sogenannten Kallikrein-Kinin-Systems durch den C1-Inhibitor (C1-INH) im Mittelpunkt. Dadurch ist dieses System während einer HAE-Attacke übermäßig aktiv. Das Resultat ist eine vermehrte Produktion von Bradykinin. Dieses Peptidhormon steht am Ende der Kaskade und vermittelt Reaktionen, die zu einer Vasodilatation und erhöhter vaskulärer Permeabilität führen. Infolgedessen kommt es bei einem Überangebot von Bradykinin zu einem Flüssigkeitsaustritt in das Gewebe – ein Ödem entsteht.1,2

Weitere Faktoren, die im Kallikrein-Kinin-System eine Rolle spielen, sind der Gerinnungsfaktor XII, der am Anfang der Signal-Kaskade steht, und der Faktor XIIa, der aus ihm entsteht und Präkallikrein in aktives Plasma-Kallikrein umwandelt. Dieses ist wiederum der Haupttreiber der Freisetzung von Bradykinin aus dem hochmolekularen Kininogen (HMWK). In diesem System hemmt der C1-INH den Faktor XIIa sowie das Plasma-Kallikrein. Durch seine Aktivität wird die Freisetzung von Bradykinin im Normalfall auf ein physiologisches Niveau beschränkt.3-6

Beim C1-INH handelt es sich um einen Serin-Protease-Inhibitor (Serpin), der in Hepatozyten, Fibroblasten, Monozyten, Makrophagen und Endothelzellen gebildet wird. Auch in der Komplementkaskade, der Fibrinolyse sowie der Gerinnungskaskade hat der C1-INH eine physiologische Rolle. Dort kommt es aber bei HAE-Patienten zu keinerlei negativen Effekten.3,4,5

Fehlende Kontrolle des Kallikrein-Kinin-Systems führt zu HAE-Attacken3-6

cHMWK: gespaltenes (cleaved) hochmolekulares Kininogen
HMWK: hochmolekulares Kininogen

Drei Typen – drei verschiedene Ursachen des HAE


Liegt die Ursache des HAE aufgrund einer Mutation in einer verminderten Konzentration des C1-INH, spricht man vom HAE-Typ I. Bei rund 85 % der HAE-Patienten ist dies der Fall. Ist dagegen der C1-INH in seiner Funktion beeinträchtigt – bei normaler bis erhöhter Konzentration –, handelt es sich um den HAE-Typ II, der in 15 % der Patienten zum Tragen kommt. HAE-Typ I und II sind seltene, autosomal dominant vererbte Erkrankungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elternteil mit HAE die Krankheit an ein Kind weitervererbt, beträgt somit 50 %. Über 450 verschiedene Mutationen im SERPING1-Gen, das für den C1-INH kodiert, sind bislang bekannt. Aber Achtung: Bei 20 % bis 25 % der Patienten handelt es sich um Keimbahn-Neumutationen.6,7,8

Anders ist die Situation bei der früher als HAE-Typ III bezeichneten Variante: Dieser noch seltenere Subtyp ist zwar klinisch nicht von den beiden anderen zu unterscheiden, allerdings sind hierbei die C1-INH-Konzentration und -Funktion im normalen Bereich. Bei diesem heute als HAE mit normalem C1-INH bezeichneten Typ resultiert die übermäßige Bradykinin-Produktion aus Mutationen in anderen Genen, u. a. jenen des Faktors XII, Plasminogens, Angiopoietins oder Kininogens. Die Diagnose erfolgt hier mittels serologischer und anschließender genetischer Tests.9

Prävalenz unbekannt

Die genaue Prävalenz des HAE ist unbekannt. Nach Schätzungen sind weltweit zwischen 1 von 30.000 bis 80.00010 Individuen betroffen. In Europa gibt es etwa 10.000 Betroffene, in Deutschland wird von etwa 1.600 Patienten ausgegangen.11 Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen, wobei die Erkrankung bei Frauen oft durch schwerere Verläufe gekennzeichnet ist.

1 Agostoni A et al. J Allergy Clin Immunol 2004;114(Suppl):S51–131.
2 Bork K et al. Allergo J Int 2019;28: 16-29.
3 Moreau ME et al. J Pharmacol Sci 2005;99:6-38.
4 Schmaier AH. J Thromb Haemost 2016;14:28-39.
5 Zuraw BL. N Engl J Med 2008;359:1027-1036.
6 Nzeako UC et al. Arch Intern Med 2001;16:2417-2429.
7 Zuraw BL. Cleve Clin J Med 2013;80:297-308.
8 Maurer M et al. Allergy 2018;73:1575-1596.
9 Marcelino-Rodriguez I et al. Front Genet 2019. https://doi.org/10.3389/fgene.2019.00900.
10 Lumry WR. Front Med. 2018;5:22.
11 Aygören-Pürsün E et al. Orphanet J Rare Dis 2018;13:73.
12 Zuraw BL. N Engl J Med 2008; 59:1027-1036.

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Laut internationaler Leitlinien der World Allergy Organization und der European Academy of Allergy and Clinical Immunology (WAO/EAACI) besteht bei Patienten mit wiederholten Angioödem-Attacken generell der Verdacht auf ein Hereditäres Angioödem vom Typ I oder II. Zur Bestätigung der Diagnose bei einem Verdacht sind Laboruntersuchungen notwendig.

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